Sie kommen aus Frankreich, aus unterschiedlichen Regionen, es sind Roma, «des Roms nomades». Sie sind in einem grösseren Verband unterwegs, «hier sind wir etwa 50 Familien», sagt der Chef. Er will namentlich nicht genannt werden, ein Foto von ihm oder anderen Fahrenden erlaubt er auch nicht. Aber zu einem Gespräch mit Bäup.ch sagt er sofort zu.
Zuerst mal betont der Chef: «Wir sind von den Behörden hier in Belp sehr positiv und respektvoll aufgenommen worden.»
Es gibt mehrere Ebenen im Verhältnis zu den Fahrenden.
Die «offizielle Ebene», die Belper Behörden, bemüht sich, sachdienlich zu agieren. Gemeindepräsident Benjamin Marti, Departementsvorsteherin Kristin Arnold Zehnder und Beat Gasser, Leiter Abteilung Sicherheit, waren rasch und mit transparenter Kommunikation vor Ort, als die Fahrenden nach Belp kamen. Sie sagen: «Wenn man sie nimmt, wie sie sind, gibts Lösungen.»
Es gibt auch eine andere Ebene, sagen wir mal die der halböffentlichen Diskussion. Auf Facebook mit extrem hoher Diskussionsenergie und viel vermeintlichem «Wissen». Auch bei Gesprächen im Dorf. Da tönts dann oft so: «Die lassen alles dreckig zurück, sie stehlen, sie haben eine hohe Anspruchshaltung, es ist eine Frechheit wie die leben, wir müssen in Belp jedenfalls unsere Häuser ganz gut verschliessen in den nächsten Tagen. Überhaupt, wenn ich dort parkiere muss ich bezahlen – warum müssen die nicht? Und wir können nun unsere Junioren nicht mehr mit dem Auto ins Fussballtraining fahren, schon sehr ärgerlich…»
Sind Fahrende wirklich «so»?
Ihre Lebensform und Kultur ist anders. Viele Bewohner einer festen Wohnung oder eines Hauses können diese Lebensform nicht verstehen. Oder wollen nicht. Man müsste wohl monatelang mit Fahrenden gemeinsam unterwegs sein, um ihr Leben wirklich beschreiben zu können. Es scheint kaum Journalisten zu geben, die das tun. Es könnte gut sein, dass die Fahrenden das auch nicht wollen.
Was in Medien, Facebook & Co. zu Fahrenden steht, ist viel, oft eine Aussensicht, teils abstrus und geht bis zu offenem Hass. Es beruht (äh, ich vermute jetzt einfach mal…) zu 97% auf Vermutungen und Vorurteilen. Und zu 3% auf irgendwelchen Beobachtungen, die jemand gesehen/gehört hat von jemandem der es gesehen/gehört haben will. Es kann stimmen, oder auch nicht.
Ich habe mit dem Chef der Fahrenden in Belp für ein Gespräch abgemacht. Es ist ein kurzer Besuch, ich stehe neben seinem Auto, er sitzt bei offener Türe auf dem Beifahrersitz, seine Frau bringt mir nach ein paar Minuten einen Espresso in verschnörkeltem Porzellan, stark, mit Zucker. Es kommen nach einiger Zeit jüngere Männer hinzu, einer hat fleckige Malerhosen an, alle sind braungebrannt.
«Wir sind hier etwa 50 Familien, jede Familie hat im Schnitt etwa zwei bis drei Kinder.» — «Wo wir jeweils als nächstes hinfahren, wird nicht lange im Voraus geplant. Die Familienchefs treffen sich, wir diskutieren, entscheiden und fahren los. Das grösste Problem ist immer: Wo gibts einen Standplatz?» — «Wir fahren grundsätzlich dorthin, wo es Chancen für Arbeit gibt.» — «Die Schweiz ist ganz einfach auch schön – die Berge, die Landschaft.» — «Wir kommen aus ganz Frankreich, einige vom Süden, einige Familien auch vom Norden.» — «Es ist ein lockerer Verbund, manchmal entscheidet eine Familie, sich anderswo anzuschliessen, es gibt immer mal wieder Wechsel in der Zusammensetzung.» — «Manchmal entscheidet sich eine Familie auch, langfristig sesshaft zu werden.» — «In die Schule gehen unsere Kinder in Frankreich, von November bis Februar, wenn wir für längere Zeit an einem Ort bleiben. Man hat dann Abmachungen mit den lokalen Behörden und den Schulen. Während der Zeit des Reisens gehen die Kinder nicht in die Schule.» — «Die Berufsausbildung machen wir so, dass Jugendliche den Beruf der Eltern oder anderer Familien erlernen. Es ist meistens ein Handwerk, zum Beispiel Renovationsarbeiten, Malen, Maurerarbeiten, oder einer macht den Automech.» — «Wir sprechen untereinander Romanés, diese Sprache geben wir von Generation zu Generation weiter.» (Infos zur Sprache) — «Was Mühe macht, gerade im Kanton Bern: Es steht doch im Gesetz der Schweiz, dass jeder Kanton 1 Platz für Fahrende haben muss? In Realität stimmt das aber nicht!» — «Wir möchten, dass klar ist, dass wir unseren Aufenthalt hier in Belp bezahlen. Den Platz, die Nutzung der sanitären Anlagen, das Wasser, die Mulde, die Abfall-Gebührensäcke.» — «Es ist uns klar, das andere Fahrende manchmal ein Chaos hinterlassen. Wir benehmen uns anständig (comme il faut).»
Das Gespräch kommt in Fahrt, ich will mehr wissen, abrupt klemmt der Chef nun ab: «So. Es reicht. Ich habe noch einen Termin.»
Er möchte noch, dass ich etwas wörtlich in den Artikel schreibe. «Das Wichtigste: Wir brauchen mehr Stand- und Durchgangsplätze! Wir Fahrenden sind oft gezwungen, Grenzen zu überschreiten. Ganz einfach weil wir Familien sind, die auf Plätzen anhalten wollen. Wir sind Menschen! (Nous sommes obligés de faire du forcing parce que nous avons des familles qui veulent rester sur des places. Nous sommes des êtres humains!)» – Und: «Es passiert oft, dass wir bis 2 oder 3 Uhr nachts noch herumfahren und nach einem Platz suchen, die Kinder möchten schlafen, alle möchten etwas essen – aber es gibt keine Plätze. Wir werden so oft abgewiesen, es gibt viele Behörden, die nicht mal in Ruhe und anständig mit sich reden lassen.»
Mit den letzten Aussagen spielt der Chef auf die Ankunft seiner Gruppe in Belp an. Diverse Medien schreiben, dass die Gruppe einen Landwirt getäuscht habe, um zu einer grossen Wiese zu gelangen. Der Chef will nicht über diese Taktik sprechen.
Sie hat jedenfalls dem «Image» der Fahrenden nicht gerade geholfen.
Dass Fahrende untereinander diskutieren, warum viele Vorurteile über sie kursieren, und wie sie über ihre Aussenwirkung denken, liest man zum Beispiel von einer Scheizer Gruppe hier (und lernt dabei, was «mamsen» heisst).
Bäup.ch kann nie die ganze Breite der Diskussionen, die um Fahrende herum entsteht, abbilden. Wer etwas mehr Fakten wissen will über die Situation in der Schweiz, erfährt einiges mehr zum Beispiel im «STANDBERICHT 2021 – Halteplätze für fahrende Jenische, Sinti und Roma in der Schweiz» (PDF).
Christoph Neuhaus, ehemals Belper und Berner Regierungsrat, schreibt im lesenswerten Vorwort in diesem Bericht: «Viersprachig ist sie offiziell, unsere Schweiz – vergessen geht dabei, dass teils in Ihrer Gemeinde und sicher auch in Ihrem Kanton Menschen leben, die seit Jahrhunderten unter uns sind, aber eine eigene Sprache sprechen und eine eigene Kultur pflegen. Auch sie gehören zu uns!» — «Die Jenischen, Sinti und Roma sind rechtlich geschützte Minderheiten. Sie haben Minderheitenrechte, damit sie ihre Kultur leben können. Wesentlich ist für sie das Fahren. Dafür braucht es Halteplätze und Grundstücke für deren Bau und Betrieb.» — «(Diese) Interessen abzuwägen heisst auch, etwas zu teilen. Teilen von Land, teilen der Nachbarschaft. Vielleicht fällt es deshalb so schwer, mit Fahrenden zu teilen, weil sie nicht einzig an einem, sondern an vielen Orten zuhause sind. Zu diesem Dorf dazugehören, aber sich auch dort in der Stadt wohlfühlen. Minderheiten, die man weniger gut kennt und deshalb viel in ihre Lebensweise und Kultur hineinprojiziert. Wie viel und welchen Raum man den fahrenden Minderheiten in der Schweiz zugestehen will, ist eine gesellschaftliche Frage.»
Ein Kernsatz des Regierungsrates:
«Es braucht dazu pragmatische Lösungen. Und vielleicht je einen Schritt aufeinander zu!»
Mehr (institutionelle/politische) Infos finden Sie bei der «Stiftung Fahrende»
Venanz Nobel meint
Besten Dank für diesen Artikel, der (wie schon andere schrieben) sehr differenziert die Lage für alle Beteiligten fair darstellt. Weiter so!
Andreas Gerber meint
Gratulation zu diesem interessanten und ausgewogenen Bericht. Leider habe ich den Eindruck, dass kaum mal ein Journalist und nur ganz wenige Politiker sich die Mühe machen, direkt mit den Menschen zu sprechen.
Frischherz Christina meint
Toller Artikel über die Fahrenden!
Richard Cescatti meint
Wie im Artikel und den Kommentaren zu lesen ist, hat die Angst vor den Fahrenden mit unzähligen Vorurteilen zu tun. Der gegenseitige Respekt und die nötige Kommunikation muss von beiden Seiten verbessert werden.
Ja, auch ich habe nachdenklich tief eingeatmet als ich das Caravan – Lager gesehen habe. Ja ich habe auch sofort etwas illegales vermutet. Man hat es ja schon oft so gehört.
Ich hatte jedoch die Möglichkeit die verantwortliche Gemeinderätin per WhatsApp anzufragen ob die Situation der Gemeinde bekannt und bewilligt sei. Dies wurde mir so bestätigt.
Warum ist immer noch nicht realisiert, dass die Gemeinde eine Kommunikationsstrategie hat durch die Bewohner und Bewohnerinnen der Gemeinde schnell und unkompliziert zu Informationen der Behörden kommen wenn sich etwas aussergewöhnliches in der Gemeinde ereignet?
Wenn es in der genannten Facebook Gruppe zu Kommentaren gekommen ist welche strafrechtlich relevant sind hätte man diese zumindest Facebook melden sollen. Die anderen Mitglieder hätte die Administration auffordern müssen ihre Meinungsäusserungen zu löschen.
Leider konnte ich nicht verfolgen ob dies geschehen ist , denn ich selbst wurde vor nicht so langer Zeit aus der Gruppe ausgeschlossen. Die Vorwürfe waren, ich würde zu kritisch und zu laut auf Missstände aufmerksam machen. Ich habe fragwürdige Kommentare kritisch kommentiert, auf das Littering Problem aufmerksam gemacht und immer mal wieder gefragt was die Gesellschaft und die Politik in Belp dafür tut das sich etwas bewegt. So wie ich es verstanden habe ist “ Belp unser Dorf“ eine Wohlfühlgruppe. Nichts politisches oder sozialkritisches soll angesprochen werden. Hie und da ganz wenig Werbung für das örtliche Gewerbe, Suchanzeigen bei verlorenen Velos oder Katzen. Natürlich schöne Bilder und Lob für den Gemeinderat.
Jetzt höre ich, dass dort massiv und strafrechtlich fragwürdig gegen die Fahrenden geschstänkert wurde? Ich würde jetzt gerne sagen, dass glaube ich nicht.
Leider kann ich mir einiges aus Erfahrung vorstellen. Wie es aussieht zurecht.
Den Fahrenden wünsche ich auf ihrem Weg viele gegenseitige freundliche Begegnungen.
Danke das ihr hier wart, denn nur deshalb wird mal wieder ein anderes Thema als Corona diskutiert. Ein Thema das uns, also die jungen Menschen, in der Zukunft noch sehr beschäftigen wird. Respekt, Solidarität, Zivilcourage, Engagement und immer wieder Aufmerksamkeit für das was in der Gemeinde mit den Menschen passiert.
Andreas Giese meint
Vielen Dank für den spannenden Bericht.
Ich habe die Abfahrt am Freitag Abend noch live miterlebt. So kurz vor dem heftigen Gewitter war der Platz wieder beinahe leer. Und ich fragte mich: Wo fahren diese Menschen jetzt hin? Bei diesem Sauwetter? Haben sie wieder einen so schönen Platz gefunden?
Wegen dem Abfall sind wir überhaupt nicht besser. Ja, es gibt immer Abfall, wo Menschen leben. Das sieht man auch bei Grillstellen und ganz besonders entlang des Radweges vom Flugplatz ins Dorf. Dort liegen regelmässig Getränkedosen, Masken, Glasflaschen, etc. im benachbarten Gras oder Feld und ich verstehe nicht, wer so etwas macht. Jemand, der zu Hause auch alles auf den Boden wirft? Muss das wirklich sein? Liebe Sportsfreunde, leider gibt es nach Abendtrainings am Morgen oft neuen Müll – bitte thematisiert das doch einmal in den Clubs. Es gibt doch genügend Abfallbehälter unterwegs…
Pascal Linder meint
Bravo. Ein fairer, differenzierter, unaufgeregter Bericht, der beide Seiten zeigt. Zugegeben: Ich war zuerst auch aufgebracht, als ich erfuhr, wie der betroffene Landwirt getäuscht wurde, habe aber dann nach kurzem Nachdenken vermutet, dass die Fahrenden zu solchen Tricks greifen weil sie sonst keine Standplätze finden. Und ja, natürlich ist ein solches Vorgehen auch kontraproduktiv. Was aber nicht die hasserfüllten Kommentare bis zu Gewaltaufrufen (das ist übrigens ein Straftatbestand…) rechtfertigt, die in der Belper Facebook
-Gruppe gepostet wurden. Es ist halt einfacher sich über die schwarzen Schafe unter den Fahrenden aufzuregen und gleich zu vermuten, dass alle Fahrenden gleich sind als sich über die eigene Dorfjugend aufzuregen, welche unsere Spielplätze zumüllt. Und dann gehen zum Teil die gleichen Leute in den Schlosshof und geniessen ohne einen Hauch von Ironie oder Selbsterkenntnis ein Gypsy-Jazz-Konzert… Das Ganze ist ein bisschen wie eine Laienaufführung des Romans (und Films) „Chocolat“. Es fehlt leider noch das Happy End. Aber man kann ja noch hoffen, das einige Leute vielleicht noch zu gewissen Erkenntnissen finden…