Nach dem Anlass sind (fast) alle glücklich. Endlich wieder Rennen fahren, endlich wieder Spitzensport bestaunen, endlich wieder Leistung vergleichen, endlich wieder feiern (der Ostschweizer Küng-Fanclub). Die Flughafen-Runde um Belp/Kehrsatz hat sich bewährt, die Organisatoren haben es geschafft, all die Kategorien einigermassen sicher aneinander vorbei zu zirkeln.
Es war zwar eine Hauruck-Übung, diese Meisterschaften. Ex-Radprofi Marcel Wyss und sein Verein «Cycling Unit», tatkräftig unterstützt u.a. von Bern Airport oder «Thömus», haben aber Vollgas gegeben. Der nationale Verband ist nicht zum ersten Mal froh, dass ein lokaler Player die Meisterschaften durchführt. Swiss Cycling unterstützte mit spürbaren Budget-Entlastungen. Und wohl noch nie in der neueren Radsportgeschichte gab es kein Preisgeld für die Podestfahrer – an den Nationalen Meisterschaften. Es wäre der Sache der Organisatoren, Preisgeld auszuzahlen.
«Hauptsache, wir können endlich wieder Rennen fahren», hört man von Elite-Fahrerin Simone Sonderegger (43), «ich bin hier aber eher Kategorie Grosi.» U23-Fahrer Elia Blum sammelt diese Saison erste Elite-Punkte und ist vor allem froh um Rennpraxis: «Ich bin zwar noch nicht total im Rennmodus, ich konnte mich hier nicht maximal leeren, aber es kommt nun wieder», sagt er.
Ein anderer U23-Fahrer, Joel Suter aus Winklen/Frutigen, wird dieses Rennen in bitterer Erinnerung behalten. Er ist auf Gold-Kurs – auch ohne 5 Betreuer, die ihn umsorgen. In der letzten Kurve schneidet ihm ein Begleitmotorrad den Weg ab, er muss mitten in der Kurve bremsen, verliert allen Schwung, das kostet ihn mindestens 2 Sekunden. Der Speaker (Franco Marvulli, Ex-Bahnradprofi) weiss davon, er nennt ihn «Sieger der Herzen».
Suter sagt ihm Gespräch gegenüber Bäup.ch: «Der Sieger der Herzen zu sein – das nützt mir nichts.» Man versteht seine Miene, wie er da auf dem zweiten Podestplatz steht, sehr gut.
An die Schweizermeisterschaften kommen vor allem die Radsportfreunde. Sehr viel Zuschauer von ausserhalb der Szene scheint es nicht zu haben. Auch die Gastronomie hat mit mehr Besuchern gerechnet. Die Frauen von Charly‘s Check-In bringen ihre Sandwiches fast nicht mehr los.
Von einem angekündigten Sicherheitskonzept sieht man nicht viel. Auch im Getümmel um Start/Ziel nicht. Irgendwo kleben ein paar Plakate mit QR-Codes, um sich zu registrieren (ungenutzt). Beim Kiosk hats ein paar Klebbänder am Boden. Etwa fünf, sechs (richtig getragene) Schutzmasken sind zu sehen. Das Startzelt-Haltegatter wird den ganzen Tag über etwa 250 Mal desinfiziert.
Was die Behörden vorschreiben bzw. empfehlen und was Hunderte von Funktionären in Hunderten von Stunden in Hunderte von Schutzkonzepten getippt haben, interessiert kaum jemanden.
Pro Forma gibts dann an der Haupt-Siegerehrung doch ein paar Schutzmasken an den Gesichtern der Funktionäre, so braucht man sich nichts vorwerfen zu lassen. Die Medaille jedenfalls, das Meistertrikot und der Blumenstrauss werden persönlich übergeben und müssen nicht selber angezogen werden (wie es angekündigt wurde). Gut so! #selbstverantwortung
Die Resultate finden Sie unter dem folgenden Link. Der Sieger fuhr 48.3 km/h im Schnitt. Die Daten von Silvan Dilliers Strava zeigen im flachen ca. 50–55 km/h, am «Selhofenberg» 34 km/h, dort wieder runter 60–66 km/h.
Hinter den Kulissen
Jedes Zeitfahrvelo wird vor dem Start vom Funktionär ausgemessen. Die Sattelspitze darf nicht zuweit vorne liegen, im Massvergleich zum Tretlager. Denn je weiter vorne sie liegt (meistens auch dank spezieller Rahmengeometrie), desto weiter nach vorne/unten kann der Fahrer sitzen, was ihn gegenüber dem Wind kleiner = aerodynamischer macht. Luftwiderstand ist der wichtiste Parameter für Zeitfahrer, hier holt man sehr viel Zeitersparnis raus. Diesem Ausloten um die optimale Sitzposition setzen die Verbände Limiten und messen jedes Velo – Chancengleichheit.
Bei den U19 ist das so eine Sache mit der Chancengleichheit… die einen Eltern kaufen ihrem Filius / ihrer Filia eine Zeitfahrbolide für 5000–8000 Franken. Die anderen können/wollen nicht… tröstlich, dass Einzelzeitfahren nur ein kleiner Teil des Rennkalenders ausmacht, die meisten Strassenrennen (Massenstart) sind chancengleicher.
Eine spezielle Fahrerin fuhr in der Kategorie Elite auf Platz 16 – ist sonst aber im Tischtennis Schweizer Spitze: Rahel Aschwanden.
Ein Zeitfahrvelo ist Hightech pur. Stefan Küng hat sein aktuelles Rad, natürlich in jedem Millimeter genau auf ihn angepasst, erst vor ein paar Tagen erhalten. «Es ist eine Waffe. Ich muss noch lernen, mit ihr umzugehen.» Wer neu mit einem solchen Rad fährt, braucht hunderte von Trainings- und Teststunden, um das Optimum herauszufinden. Auch Kurven schnell zu fahren muss man «neu» lernen. Und viele jüngere Fahrer, die man in Belp sah, haben ihr (teures) Scheibenrad nur an diesem Tag fahren können, weil es dem Team gehört.
Die Fahrerlager variieren auch etwas. Superstar Stefan Küng: Mehrere Betreuer, Team-Manager, Mechaniker, sie wuseln um ihn herum, «ist die Position des Ventilators OK? Willst du das nasse Frottée halbkalt oder sehrkalt?». Er und sein Teamkollege aus dem Nachwuchsteam, Alexandre Balmer (U23), haben ein Wohnmobil, einen Werkstattwagen und zwei Teamwagen zur Verfügung. Küng und Balmer holen je eine Goldmedaille zurück in ihren Wagenpark zurück, wobei Balmer vom Pech eines anderen profitiert.
Hingegen Tom Bohli, ein weiterer World-Tour-Profi: Er fährt für ein italienisch geführtes Team, Saudis sind die Investoren. Hier gehts beim Warm-Up etwas unkomplizierter zu, das Gegenteil eines Wagenparks, man plaudert, witzelt, 1 Team-Auto ist vor Ort.
Die Mechaniker schauen auf jedes Detail. Nicht alle haben die Prioritäten bei den gleichen Details. Da wird ein Velo halt auch mal zum Startteppich getragen. Denn die Reifen sind pedantisch sauber, und wenn schon vor dem Start ein Steinchen zuviel im Reifen drin steckt, wäre das unverzeihlich. Bei anderen werden die Reifen im Startzelt noch abgewischt. Bei Küng: weder noch…
Der Zeitfahr-Doyen Fabian Cancellara liess sich auch Blicken in Belp. Nach seiner Rad-Karriere nennt er sich «Entrepreneur», u.a. bietet er für Hobbyfahrer eine weltweite Rennserie «Chasing Cancellara» an. Er engagiert sich auch für die nächste Radsport-Generation – Cancellara ist seit diesem Wochenende auch Mentor im Schweizer Nachwuchsteam «Swiss Racing Academy».
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